DU

Jeremias Klage über sein Volk
Ach, daß ich eine Herberge hätte in der Wüste, so wollte ich mein Volk verlassen und von ihnen ziehen! ...

Sie schießen mit ihren Zungen lauter Lüge und keine Wahrheit und treibenīs mit Gewalt im Lande und gehen von einer Bosheit zur andern ...



Und bist du nicht auch dabei? Habe ich dich nicht gesehen? Schreiend, Spucke vorm Mund und das ganze Programm: saufen, fernsehen und dann ab. Und breitbeinig stehst du im Raum und beschwörst deine Freunde und breitbeinig stehst du auf der Straße und befiehlst, keinen Schritt zu weichen.

Und werte Herren saßen vielleicht im Salon, vielleicht bei einer Hure, argumentierten. Und ich sah die werten Herren überlegen, was man denn, und was jetzt notwendig und angemessen. Und du schriest und brülltest immer noch. Und deine Freunde erhoben ihre Köpfe und ihre Stimmen sprachen dir nach.

Und diesmal traf sich der Oberstudienrätinnengeburtstagskaffee. Wie jedes Jahr der gleiche Waldorfsalat (diesmal ohne Nüsse), gleiches Besteck, gleicher Auflauf, gleicher Wein, gleiches Tiramisu. Aber ein anderes Thema. Diesmal: du und dein Geschrei, und was man denn jetzt, man hatte schließlich auch freiwillig zwei Semester Pädagogik studiert: Es folgten klärende Gespräche mit Herrn Papa und Madame Mama.

Und du, du schriest und brülltest, natürlich wissenschaftliche Selbstverständlichkeiten. Was man ja, Lateinunterricht, Nächstenliebe und Humanismus hin oder her, ja doch mal überlegen könnte. Was ja schon irgendwie richtig wäre. Und die Rausländer würde man gern dabehalten, man ist ja kein Unmensch, und wenn man das Geld hätte, dann selbstverständlich! Aber wir haben ja selber nichts. Und außerdem, der Cousin im Osten hat ja schließlich auch keine Arbeit und erst müssen wir uns um das eigene Blut kümmern.

Und du zetertest, deine Augen quollen sanft hervor und deine Stimme bellte manchmal schneidend, manchmal glitt sie sanft durch die Köpfe, hinterließ ein enges, dunkles Tal voller Angst, Stolz, Neid. Und die Männer in den Straßen erhoben ihre Fäuste.

Und droben die Führer sahen dich und führten mit Worten. Viele Worte; und sie sagten: "Ja, genau, Umschwung, Aufstand, Kerzen an!" Und du schriest und brülltest und brülltest laut und die ganze Straße erbebte.
Die Welt stand Kopf: Die Mütter standen im Bus für dich auf und die Alten nickten dir vom Bürgersteig aus freundlich zu, und der Direktor legte viele gute Worte für dich ins Feuer, wegen deinen Eltern. Und du lachtest und hobst deinen Arm und befahlst: Marsch! Und die Mädchen riefen: "süß!"

Und kamen ganz oben am Himmel, dort wo die Luft allmählich dünn wird, zwei Engel aufeinander zu. Schön die eine. Stark der andere. Guckten sich an und küssten sich und stiegen auf die Erde herab und ihre Stimmen ertönten und sprachen: "Einig Menschen erster Klasse mit Vaterlandszuschlag! Einig sollt ihr sein! und wenn ich Birken sehe, denke ich an Russland." "Ja," sprach der schöne Engel, "wenn ich Birken sehe, denke ich an Russland!"
Und der Starke traf sich mit den Alten und umarmte sie und quetschte ihre zarten Körper an seiner stolzgefüllten Brust und die Alten lächelten unsicher und sagten, es sei nicht so schlimm.

Und du sahst den Engeln zu und deine Brust schwoll und schwoll. Und dein Arm zuckte herab. Zuckte auf die Köpfe der Alten herab, stoppte kurz vor dem Aufprall und deine Hand streichelte ihren Kopf und zog die alten Körper an sich heran. Und du umarmtest und drücktest zahlreich Alte und Schwache, Zarte und Wunde an deiner Brust zu Brei. Ja Brei! Kartoffelbrei! Und Kartoffelbrei, da denkst du nicht an Russland, da denkst du an uns! Kartoffelbrei! Ja, Kartoffelbrei, das sind wir! Und: Ah, wie herrlich es duftete! Damals, als du noch ein Kind warst, in eurem Haus und eurem Herzen ganz am Ende des kleinen Buchenwäldchens, beide ganz nah bei den Alten. Beide ganz nah an der Lösung.

Und lösen sollte man das Ganze mal, sagtest du im Ortsverein. Ja, am besten ein starker Mann. Ärmel hochgekrempelt und dann los! Lösen! Loslösen von der alten Gemütlichkeit, die Gemütlichen lösen, auflösen, zerschlagen, mit der Faust auf den Tisch und in die Fresse. Ein starker Mann! Das wäre mal was. Und der Ortsverein tobte und die dicken Bäuche hoben ihre Köpfe und blickten dich an. Ja, du bist ein Kerl, ein Bild von einem Mann. Und deine Männer erhoben ihre Stöcke.

Und jetzt: Schreien und Brüllen auf allen Kanälen und Fäuste auf Tischen sind zahlreich und Fäuste in Fressen sind auch nicht schlecht. Und jetzt gehst du selber zu den Huren und die schreien: "Heil dir! Stolzer! Süßer! Du!" Und die Gemütlichen schreien und stehen Spalier. Und ihre Brust schwillt und erdrückt.
Und huldvoll lächelst du in den Zimmern von der Wand herab, eine Nation des Gesetzes, eine Nation der Ordnung, und deine Ordnung und deine Sauberkeit und endlich wird mal aufgeräumt.
Und die werten Herren sitzen auf der Tribüne. Nach und nach sterben sie weg, wie die Fliegen, sagen sie selbst. Und auf den Beerdigungen zählen sie die Orden an der Brust der Anderen und vergleichen. Und du bist auch da und lobst den Einsatz und verleihst Orden. Und die Oberstudienrätinnen essen immer noch das selbe Menü, nur Wein ist knapp im Moment, aber da ist das Ausland schuld. Und sie reden. Man muß nur aufpassen, was man sagt. Der Mann der einen ist ja in deiner Partei.
Und Herr Papa ist längst tot und Madame Mama hat endlich ihren heißersehnten Theateraboplatz in der ersten Reihe, und wenn sie den Saal betritt, unterbrechen die Sänger ihr Lied und das Publikum empfängt sie mit Applaus. Und der Intendant steht auf und schüttelt ihre Hand. Und dein Cousin hat jetzt endlich Arbeit, schwingt Peitschen und Äxte und schreit Wahrheiten in seinem Dorf heraus.
Und die Führer haben sich geteilt: Die einen graben tiefe Löcher und legen sich ruhig in sie hinein und ein Befehl ertönt und die Führer zucken. Die anderen sitzen auf goldenen Thronen, an reich gedeckten Tischen und die Milch fließt und der Gürtel muß ein, zwei Löcher weiter geöffnet werden.
Und die Mädchen sind zuhauf gefüllt mit deinem Samen und glücklich lachen ihre dicken Bäuche. Und die Mütter haben sich zu ihnen gelegt und pressen die Maschinen aus sich raus. Und die Maschinen werden gedrillt und getrieben. Und die Maschinen schreien und rennen und hauen und töten.

Und der Direktor ist jetzt Minister und trifft sich mit den Engeln, und zusammen schwärmen sie von morgen. Und ja, früher war alles schlecht, da gab es viel zu viele Birken, heute gibt es wieder Buchen und Wälder. Das ist gut! Und die dicken Bäuche aus dem Ortsverein sitzen im Büro oder in einem Wäldchen oder haben sich zu den Huren zurückgezogen und lachen viel und trinken Wein. Und der Wein fließt in Strömen.

Und die Alten nicken ein letztes Mal freundlich den Polizisten zu, wenn sie an Stricke geknüpft werden und dann senken sie ihre Blicke und die Uniformen stemmen stolz ihre Arme in die Hüfte und grinsen scharf. Und die Alten und Schwachen und die Zarten und Wunden schreien unter den Peitschen und winden sich im Schmerz. Ihre Münder reißen auf, ihre Beine werden dünn und knicken um. Und zitternd knien sie vor den Maschinen und wünschen sich den Tod. Und ihre Köpfe rufen und weinen und haben Angst. Und die Glücklichen laufen weg und kommen nie wieder, nie mehr wieder hierher.
Und der Buchenwald,
Buchenwald ist abgebrannt.
Und du,
du schreist und brüllst und singst stolze Lieder.
Johannes Z. Rost